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27.05.2024

Und dann war ich einfach da…

Seit fast drei Monaten bin ich jetzt in Uruguay, lebe meinen Alltag, habe unglaublich viele neue Menschen kennengelernt und freue mich, genau dort zu sein, wo ich gerade bin. So beginnt Ruth Memmerts Bericht über ihren Aufenthalt in Montevideo.

Am Anfang wurde ich oft gefragt, ob ich es mir so vorgestellt habe, wie es hier ist. Dabei hatte ich mir eigentlich gar nichts wirklich vorgestellt, weil es bei so etwas am Ende immer anders kommt, als man denkt. Zudem hatte ich in den Monaten davor kaum Zeit zum Nachdenken. Ich steckte noch mitten in den letzten Prüfungen von meinem Studium (Soziale Arbeit) in Esslingen – und als ich die letzte Prüfung hinter mir hatte, ging es mehr oder weniger auch schon direkt los und dann war ich einfach da...

2018/19 war ich schon einmal für einen Freiwilligendienst auf dem Kontinent, damals war ich über die Steyler Missionsschwestern für ein Jahr in einem Andenbergdorf in Bolivien. Jetzt wieder in Südamerika zu sein – fünf Jahre später und mit 23 Jahren –, fühlte sich deshalb nicht nur wie weggehen an, sondern auch wie ein Zurückkommen.

Ruth Memmert (Mitte) und ihre WG-Mitbewohnerinnen

Interaktiver Gottesdienst

Gemeinsam mit vier anderen deutschen Freiwilligen wohne ich in einer ehemaligen Pastor:innenwohnung im Stadtteil Buceo von Montevideo, nur zwei Minuten vom Strand entfernt. Die methodistische Gemeinde, die an die Wohnung angrenzt, ist relativ klein und viele der Besucher:innen sind schon älter. Es wird immer wieder gesagt, dass sie sich wünschen, dass mehr junge Menschen die Gottesdienste besuchen.

Die Male, die ich selbst schon dort war, habe ich mich sehr wohlgefühlt. Die Gemeinde hat mich sehr herzlich und offen aufgenommen und die Gottesdienste wirkten auf mich interaktiver, als ich es von Deutschland kannte. Der Pastor lässt sowohl vor als auch teils während der Predigt viel Zeit zum gemeinsamen Reflektieren und zum Gedanken-, Erlebnisse- und Erfahrungen-Teilen, was von der Gemeinde gerne angenommen wird.

Beim gemeinsamen Vorbereiten des Mittagessens im Espacio Compa.

Mit Küsschen begrüßt

Vier Tage in der Woche arbeite ich im Espacio Compa, einer Tagesstätte für Obdachlose. Das Ziel dieser von der Methodistischen Kirche getragenen Einrichtung ist die soziale Wiedereingliederung der Teilnehmenden. Die Gründe, weshalb die Personen »in Straßensituation« sind – das ist der spanisch politisch korrekte Begriff – sind nicht nur sehr individuell, sondern auch sehr privat. Tatsächlich haben die wenigsten mit mir darüber gesprochen und das ist total ok so, denn im Prinzip ist es für meine Aufgabe unwichtig: Natürlich ist die Vergangenheit Teil der Person, aber es geht für mich hauptsächlich darum, den Tag miteinander zu verbringen und zu schauen, wie es weitergeht.

Das Team vom Espacio Compa ist gemischt, es besteht unter anderem aus Sozialarbeitenden, einem Psychologen, einem Arzt und ehemaligen Teilnehmenden. Ich erinnere mich gern an meinen ersten Arbeitstag. Da war ich praktisch noch ganz neu im Land und dann begrüßten mich mit Umarmung und landestypischem Küsschen 50 Menschen, die auf der Straße lebten und neugierig waren zu erfahren, wer ich bin. Und ich selbst war natürlich mindestens genauso neugierig darauf, sie besser kennenzulernen.

Zusammen Malen im Espacio Compa.

Viele Einzelschicksale

Die meisten kenne ich mittlerweile wirklich besser durchs gemeinsame Mandala-Malen, Obst- und Gemüseschneiden, im Schachspielen verlieren, sich über Philosophen wie Husserl und Vaz Ferreira austauschen, Tischtennisspielen oder auch einfach normale Gespräche. Da ist die 37-Jährige, die aus Neugier anfing, Kokain zu konsumieren und es dann von einem Tag auf den anderen wieder ließ, als sie sich daran erinnerte, dass ihre beste Freundin mit 17 Jahren in einem Drogen-Kontext erschossen wurde. Da ist der 20-Jährige, dessen Lieblingsessen Pastel de carne (eine Art Fleischpastete) von seiner Oma ist und der sehr gerne sonntags wieder zu ihr zum Mittagessen gehen würde. Da ist der 35-Jährige, der die Schule nachholt und dem es manchmal schwerfällt, zum Espacio Compa zu kommen. Der 28-Jährige Künstler, der nicht möchte, dass seine Geschwister etwas von seiner Situation wissen, weil sie nicht verstehen würden, dass er kein Geld brauche, sondern eine Umarmung. Die 60-Jährige, die sagt, sie halte es nicht mehr aus, sie versuche es nur zu überstehen.

Meine Freundin Angie und ich beim Bemalen von einem Teil der Außenwand des Espacio Compa.

Tolle Atmosphäre in der Einrichtung

Es gibt Tage, da wird viel gemeinsam gelacht, an anderen Tagen haben die Tränen die Oberhand und an den meisten Tagen ist es eine Mischung aus beidem. Manchmal sind es auch scheinbar ganz normale Fragen, die etwas auslösen: Weil zum Beispiel die Frage, wie das Wochenende war, eben je nach Situation sehr hart sein kann. Im Espacio Compa schätze ich auch den fachlichen Austausch im Team sehr. Ich mag die Art und Weise, wie mit den Teilnehmenden interagiert wird und auch, dass ich selbst offen Fragen stellen kann.

Pastorin Giovanna Romero von Sembradores und ich.

Weiterer Einsatzort

Meine anderen beiden Arbeitstage bei Sembradores (Sozialraumarbeit in einer Randgegend Montevideos, unter anderem Suppenküche und Aktivitäten für Kinder und Jugendliche) sind ruhiger als im Espacio Compa. Meistens ist dort auch viel Zeit, mich mit Giovanna, der leitenden Pastorin des Projekts, zu unterhalten.

Ich genieße die Gespräche mit den Menschen und die Nähe zum Meer (beziehungsweise genau genommen die Nähe zum Fluss, Montevideo liegt am Río de la Plata und nicht direkt am Südatlantik…). Außerdem genieße ich die Interkulturalität: Ich habe hier nicht nur Menschen aus Uruguay kennengelernt, sondern auch aus Venezuela, Kuba, Costa Rica, Nicaragua, Kolumbien, Argentinien und Spanien.

Ich bin gespannt auf die zweite Hälfte, die jetzt vor mir liegt!

Ruth Memmert